Klassiker zur Weihnachtszeit

Die Kantaten aus J. S. Bachs »Weihnachtsoratorium« erklingen in 47 Aufführungen


Weihnachten »ohne« geht nicht. Die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach gehören zur Advents- und Weihnachtszeit wie das Lametta zum Christbaum. Insider benutzen für das populäre Werk gerne die Abkürzung WO. Im Blick auf die Gebiete der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts ist G+H der Frage nachgegangen, wo das WO in diesem Jahr zu hören ist? Dabei konnten insgesamt 47 Aufführungen einzelner Teile des Gesamtwerkes (bzw. an ihm orientierter Adaptionen) erfasst werden. Zugleich soll seine Aufführungsgeschichte beleuchtet werden.

Johann Sebastian Bach führte die sechs Kantaten des »Weihnachtsoratoriums« innerhalb von zwei Wochen auf: Teil 1 am ersten Weihnachtsfeiertag, Teil 2 am zweiten, Teil 3 am dritten, Teil 4 gab es zu Neujahr, Teil 5 am Sonntag nach Neujahr und den abschließenden Teil 6 zu Epiphanias, dem Dreikönigstag. Die Aufführungen in der Leipziger Thomas- und Nikolaikirche, um 7 Uhr und um 15 Uhr beginnend, waren hierbei in den liturgischen Gottesdienstablauf eingebunden.

Neu war, dass der Thomaskantor einen sechsteiligen Zyklus mit einem durchgehenden textlichen Geschehen – der Weihnachtsgeschichte – schuf. Er bezog sich dabei auf die Geschichte um Christi Geburt nach dem Lukas-Evangelium (Kantaten 1 bis 4) und die Epiphanias-Geschichte um die drei Weisen aus dem Morgenland nach dem Matthäus-Evangelium (Kantaten 5 und 6). Dieser biblische Bericht wird vom Evangelisten (Tenor) in den Rezitativen gesungen, ergänzt durch den Engel (Sopran) sowie die Gruppe der Engel und Hirten durch Chöre. Für die Eingangschöre der einzelnen Kantaten, die Arien und die vom Orchester begleiteten Rezitative nutzte Bach freie Dichtungen eines unbekannten Librettisten, vermutlich Friedrich Henrici, bekannt unter dem Namen Picander.

Nach Bachs Tod erbte Carl Philipp Emanuel Bach die handschriftliche Partitur und die Originalstimmen. Über Goethes Freund Carl Friedrich Zelter gelangte beides an die Berliner Sing-Akademie, bis das Aufführungsmaterial 1854 von der Königlichen Bibliothek, der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin, erworben wurde. Der Berliner Sing-Akademie ist auch die Wiederentdeckung des Werkes zu verdanken, die das Oratorium am 17. Dezember 1857 unter Eduard Grell zum ersten Mal nach Bachs Tod in ihrem Konzerthaus hinter der Neuen Wache in Berlin-Mitte wieder vollständig zum Klingen brachte.

Eigenartigerweise brauchte es noch einmal 100 Jahre, bis das »WO« denselben Bekanntheitsgrad wie Bachs große Passionen erlangte. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist es jedoch das bekannteste Werk der Kirchenmusik überhaupt – nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt jubilieren die Chöre freudig: »Jauchzet, frohlocket!« Im heutigen Musikbetrieb werden die Kantaten 1 bis 3, 4 bis 6 oder 1 bis 3 und 6 (wegen der einheitlichen Instrumentierung) oftmals bereits in der Adventszeit zu Gehör gebracht. Einzelne Chöre öffnen einige Wochen vor der Aufführung ihre Proben und laden zum »Weihnachtsoratorium zum Mitsingen« ein. Natürlich gibt es auch Interpretationen in historischer Aufführungspraxis auf Originalinstrumenten der Bach-Zeit. Während manche Experten davon ausgehen, dass die Chöre lediglich von einem Solistenquartett gesungen wurden, setzen andere einen kleinen Chor ein. In der Regel wird das Werk jedoch von größeren Chören aufgeführt. Michael Gusenbauer verbindet in seinem WO für Kinder die Rolle eines Erzählers mit Musikbeispielen. In einer Bearbeitung für den MDR-Kinderchor werden die Arien von Kindern gesungen.

Michael von Hintzenstern, Glaube und Heimat vom 29.November 2015