Orgel St. Marienkirche

Die große Orgel in der Marienkirche Salzwedel hat eine wechselvolle Geschichte, die die Umschwünge in Musikgeschmack und Orgelbau in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten widerspiegelt. Blickt man vom Kirchenschiff auf die Westempore, so sieht man einen prachtvollen Barockprospekt – und lediglich die Pfeifen, die seitlich über den Prospekt hinausragen, deuten darauf hin, dass es sich beim klingenden Werk keineswegs um eine barocke Orgel mit geschlossenem Gehäuse handelt.

Spätestens im Jahr 1541 gab es in St. Marien eine Orgel; die heutige Westempore wurde 1699 für eine Orgel von Otto Engelhard Botjenter (Braunschweig) geschaffen. Den heutigen Prospekt und die dazugehörende Barockorgel schuf der „preußische Silbermann“ Joachim Wagner (1690-1749). Es war Wagners letztes Werk: Er starb während der laufenden Bauarbeiten; sein Schüler Gottlieb Scholtze (Neuruppin) vollendete die Orgel 1752. Sie hatte 33 Register auf drei Manualen und als Besonderheit eine „Transmissionslade“: 6 Register konnten von zwei verschiedenen Manualen aus bedient werden.

Anfang des 20. Jahrhunderts galt Wagners Orgel als unmodern und „verbraucht“ und wurde 1914 durch ein hochromantisches Instrument der Firma Furtwängler & Hammer (Hannover) ersetzt – ein Riesenwerk mit 62 Registern auf 3 Manualen, vollpneumatischer Traktur und Taschenladen. Der Barockprospekt wurde beibehalten, alle anderen Teile der Wagner-Orgel vernichtet. Als Letztes fielen die stumm gewordenen Prospektpfeifen 1917 der Kriegsrüstung zum Opfer – später durch Zinkpfeifen ersetzt.

 

Durch mangelnde Wartung verfiel die Furtwängler & Hammer-Orgel nach dem
II. Weltkrieg zusehends und war seit den 70er Jahren nicht mehr spielbar. Außerdem galten romantische Orgeln in dieser Zeit wiederum als unmodern, überdies als generell handwerklich schlecht („Fabrikorgel“). So dachte die Gemeinde über einen Neubau durch die Firma Alexander Schuke (Potsdam) nach; in den 80er Jahren war der Auftrag zum Abbruch der jetzigen Orgel bereits erteilt, wurde aber nicht ausgeführt. In den 90er Jahren gab es Pläne, hinter dem Barockprospekt eine Orgel „im Stil Wagners“ zu rekonstruieren.

Nach heftigen Auseinandersetzungen und einem Eingreifen der Denkmalschutz-Behörde entschied man sich dann nach der Jahrtausendwende doch für eine Restaurierung des romantischen Werkes, die in den Jahren 2003-2007 von der Orgelwerkstatt Christian Scheffler durchgeführt wurde. Und so erfreut die Furtwängler & Hammer-Orgel seit einigen Jahren wieder die Herzen und Ohren der Salzwedeler und zahlreicher Besucher.

Nicht nur als größte Orgel der gesamten Altmark, sondern insbesondere als ohne Umbauten erhalten gebliebene Großorgel vom Anfang des 20. Jahrhunderts stellt dieses Instrument eine echte Rarität dar. Sie zieht Organisten von weither an und wurde auch schon für professionelle CD-Aufnahmen hochromantischer Musik (Max Reger, Sigfrid Karg-Elert) genutzt. Außerdem ist sie natürlich regelmäßig im Gottesdienst und gelegentlich (ca. 10mal im Jahr) im Konzert zu hören.

 

Roland Dyck
Kantor St. Marien